Alleine leben in der eigenen Wohnung
Marcel W. ist begeisterter Borussia-Dortmund-Fan. Er lebt alleine in einer Wohnung. Der 35-Jährige hat einen Assistenzbedarf: Seit seiner Kindheit sitzt er im Rollstuhl, kann sich nicht waschen und pflegen, kann nicht kochen oder putzen. Unterstützt wird er dabei von Persönlichen Assistenten. Diese werden im Rahmen der Eingliederungshilfe bezahlt, die vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe finanziert wird.
Eingespieltes Team
Faysal Boulakhrif steht an der Arbeitsplatte in der hellen Küche und schneidet eine Gurke in Scheiben. „Kannst du bitte dann gleich auch die Tomaten waschen und für den Salat kleinschneiden?“, fragt ihn Marcel W., während er ihn bei der Arbeit beobachtet. Faysal Boulakhrif nickt kurz, die beiden wirken eingespielt, über die Essensvorbereitung müssen sie nicht lange reden. Stattdessen geht es im Gespräch um Borussia Dortmund, die einige Tage vor diesem sonnigen Nachmittag gegen Paris St. Germain den Einzug ins Champions League-Finale geschafft hatten. Marcel W. war dabei, im Stadion in Paris, auf der BVB-Gästetribüne, mittendrin.
Begeisterter Fußball-Fan
Für den begeisterten Fußball-Fan, der seit seinem siebten Lebensjahr mit dem BVB fiebert, ist das nicht unbedingt selbstverständlich. Er sitzt im Rollstuhl, schon seit seiner Kindheit. Der 35-Jährige hat eine Autosomale Rezessive Spastische Ataxie, auch Charlevoix-Saguenay-Syndrom genannt. Die seltene angeborene Erkrankung, die nur bei 500 Menschen auf der Welt diagnostiziert ist, hat dazu geführt, dass Marcel W. schon als Kleinkind nicht gut laufen konnte. Die Ärzte fanden zunächst die Ursache nicht, es ging durch mehrere Krankenhäuser, bis eine Professorin die richtige Diagnose stellte. Seitdem weiß Marcel W., was er hat – eine Heilung gibt es allerdings nicht, die Krankheit schreitet immer weiter voran. „Manchmal geht es mir ganz gut, aber wenn ich zum Beispiel schlecht geschlafen habe oder das Wetter nasskalt ist, merke ich, dass ich nicht so viel leisten kann“, sagt er.
Assistenzleistungen
Zu Auswärtsspielen des BVB fahren, den Alltag in der Neubauwohnung in Dortmund leben, aber auch Schwimmen fahren oder ins Kino gehen: Für Marcel W. ist das nur deswegen möglich, weil er Assistenzleistungen bekommt.
Faysal Boulakhrif unterstützt ihn dabei seit Jahren, zunächst als Persönlicher Assistent, mittlerweile als Gründer der Mittelpunkt Mensch GmbH, einem Assistenz- und Pflegedienst in Dortmund, dessen Kunde Marcel W. ist.
„Wir kennen uns schon lange, das macht die Arbeit einfacher und zugleich für beide Seiten viel angenehmer“
sagt Boulakhrif, der mittlerweile 100 Angestellte hat, von examinierten Pflegefachkräften über Pflegehelfer:innen bis zu Persönlichen Assistent:innen, die die Menschen mit unterschiedlichen Hilfebedarfen ganzheitlich unterstützen.
„Für uns ist es besonders wichtig, dass sich unsere Kunden, aber auch und unsere Mitarbeiter:innen wohl fühlen. Deswegen sorgen wir dafür, dass beide Seiten von den Interessen, von der Persönlichkeit und vom Alter gut zusammenpassen“
, sagt der Gründer.
„Denn nur wenn wir gute Teams bilden, haben beide Seiten Spaß an der Zusammenarbeit.“
Viel Flexibilität
Marcel W. wird 15 Stunden am Tag unterstützt, einen Teil der Zeit übernimmt Faysal Boulakhrif – weil die beiden sich gut verstehen und weil der Unternehmensgründer immer nah am Geschehen bleiben will. Insgesamt sind zwei Vollzeitkräfte nötig, um die Zeit abzudecken. Dabei ist viel Flexibilität nötig und gewünscht. „Wir sind eigentlich bis 23 Uhr da, wenn Marcel aber sagt, dass er einmal Ruhe haben möchte und gut alleine zurechtkommt, gehen wir auch früher“, sagt Faysal Boulakhrif. Die dann fehlenden Stunden verbucht er auf einem Arbeitszeitkonto, das dann wiederum zum Beispiel bei Auswärtsfahrten von Borussia Dortmund verbraucht wird, bei denen Marcel W. ebenfalls begleitet wird. Dieser kommt mit der Situation sehr gut zurecht, sagt er:
„Ich kann im Grunde alles machen, was ich möchte, weil mich Faysal und die anderen so gut unterstützen. So kann ich hier alleine leben und bin doch nie allein, wenn ich jemanden brauche.“
Das gilt auch für die nächtliche Versorgung: Wenn diese einmal nötig ist, verlässt sich Marcel W. auf seine Mutter, die im Nachbarhaus lebt.
Beratung, Bedarfsermittlung und Leistungsfestlegung
Finanziert werden die Leistungen, die Marcel W. bekommt, vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL). Sie gehören zur sogenannten Eingliederungshilfe, die dafür da ist, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben können. Die LWL-Teilhabeplanerinnen und Teilhabeplaner sind zuständig für die Beratung, Bedarfsermittlung und Leistungsfestlegung. Sie sind zum Beispiel für Menschen zuständig, die alleine wohnen möchten. Bei Marcel W. hat die LWL-Teilhabeplanerin Rylana Hillebrandt den Bedarf festgestellt. Für Rylana Hillebrandt ist ihre Arbeit sehr wichtig: „Wir sorgen dafür, dass die Leistungen des SGB IX umgesetzt werden, indem wir Leistungen zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile finanzieren. Beim Leben in der eigenen Wohnung gehört auch die individuelle Lebensgestaltung in Form von Freizeitaktivitäten dazu. “
Um die Stundenzahl festzulegen, hat die LWL-Beschäftige zunächst alle vorhandenen Akten und Gutachten gelesen. Im anschließenden Hausbesuch wird Herr W. nach seiner aktuellen Lebens- und Betreuungssituation befragt. Dabei werden persönliche Wünsche berücksichtigt. „Wir gehen nach dem biopsychosozialen Modell vor und schauen immer auf das Umfeld. Wie selbstständig ist der Mensch, der Unterstützung braucht, welche Barrieren, aber auch welche Förderfaktoren gibt es?“, erklärt Rylana Hillebrandt die Kernfragen, nach denen die einzelnen Bedarfe bewertet werden. Die Wohnung von Marcel W. zum Beispiel ist fast vollständig barrierefrei: Die Schwelle zum Balkon lässt sich mit dem Rollstuhl leicht überfahren, im Badezimmer gibt es einen Lifter, die Küche ist rollstuhlgerecht, der Türöffner ist auf eine für ihn erreichbare Höhe heruntergesetzt. „Dass die Mutter nebenan lebt, ist ein wichtiger Faktor, der Herrn W. Sicherheit vermittelt“, sagt Rylana Hillebrandt.