Endlich angekommen
Oliver G. stammt aus schwierigen Verhältnissen. Lange Zeit hat sich der heute 63-Jährige mit Alkohol abgelenkt und betäubt. Seit zwölf Jahren ist er trocken, seit zwei Jahren lebt er mit seiner Partnerin in der eigenen Wohnung in Hagen. Geschafft hat er das, weil er etwas ändern wollte – und geholfen haben ihm dabei das Blaue Kreuz und die Leistungen für das Ambulant Betreute Wohnen, das der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) finanziert.
Wer Oliver G. zuhört, wie er seine Lebensgeschichte erzählt, fühlt sich wie in einem Film, der in düsteren Zeiten spielt. Dabei liegt es nicht an dem 63-Jährigen, der aufgeräumt und freundlich in den Räumen des Blauen Kreuz in Hagen am Tisch sitzt. Er lächelt, anfangs noch zurückhaltend, ist aufmerksam und konzentriert. Aber seine Geschichte, die ihn hierhin geführt hat, ist ergreifend – und vielleicht doch auch eine, die gar nicht so wenige Menschen erlebt haben.
Oliver G.
...wächst als ältestes von sechs Kindern in einem Zuhause auf, in dem der Vater die prägende Figur ist. Nicht, weil er mit besonders viel Liebe oder Zuneigung ein gutes Vorbild abgibt. In dem Dorf Bremke in der Nähe des sauerländischen Meschedes gibt es nur ein Ziel: den Vater freundlich zu stimmen, in den meisten Fällen mit Alkolhol. „Schon als ich zehn, elf Jahre alt war, fiel mir auf, dass mein Vater nur verträglich war, wenn er etwas getrunken hatte. Sonst war der Teufel los“, erinnert sich Oliver G., der in einem Mehrgenerationenhaus groß wurde, in dem Alkohol in jeder Familie eine Rolle spielte. „Mein Vater und auch mein Onkel, der nebenan wohnte, tranken ständig. Meine Aufgabe war es, Bier und Schnaps zu besorgen, jeden Tag, obwohl das Geld bei uns sehr knapp war.“ Der kleine Oliver läuft von Geschäft zu Geschäft, manchmal auch sonntags, und muss die Inhaber, die ihn schon kennen, anbetteln, dass die Familie noch einmal anschreiben lassen kann.
Der Vater, von Beruf Baggerfahrer, ist zwar einigermaßen ruhig, wenn er getrunken hat, aber er tut auch nichts zuhause. „Wir hatten damals Hühner und Schafe und haben mit Holz und Kohle geheizt“, erzählt Oliver G.. „Ich musste mich um die Tiere kümmern, und auch darum, dass der Ofen schön warm war.“ Der Junge wird für seine Geschwister zu einer Art Ersatz für den Vater, der nicht schreiben und nur ein wenig lesen konnte. „Ich war damals total überfordert, weil ich außer Schule und Arbeit zuhause nichts kannte.“
Als er 15 Jahre ist
...wird die Situation vordergründig ein wenig besser. Gemeinsam mit dem Vater geht Oliver G. in den Wald, schwarz arbeiten für einen Waldbauern. „Wir haben gut verdient, aber die Arbeit war sehr anstrengend. Abends bin ich fast umgekippt.“ Nachdem Vater und Sohn abends den Lohn abgeholt hatten – „davon habe ich nie etwas für mich bekommen“ –, gehen die beiden in eine Kneipe. „Da fing das bei mir an mit dem Trinken“, sagt Oliver G. „Nach ein paar Bier ging es mir dann ziemlich gut. Ich konnte mitreden, hatte die gleiche Arbeit wie mein Vater gemacht und konnte ihn so zufriedenstellen.“
Schon ein Jahr später eskaliert die Situation. Oliver G. verteidigt seine Mutter, die wegen der Alkoholsucht ständig Streit mit dem Vater hatte. „Er hat sie geschlagen, ich bin dazwischen gegangen, er ist ausgerastet – und ich bin abgehauen“, berichtet er mit einfachen Worten. Oliver G. lebt danach bei seiner Tante, dann ein Dorf weiter bei einer Witwe, wo er in Haus und Garten helfen muss.
Für Oliver G. beginnt in diesen Jahren eine lange Zeit der Unsicherheit. Er beginnt eine Lehre als Maler, kommt dort nicht so gut zurecht, ertränkt seine Sorgen in Alkohol. „Es gab immer Bier und mit den Maurern auf dem Bau habe ich dann mit Schnaps angefangen.“ Bei der anschließenden Bundeswehrzeit ist der Alkohol ebenfalls täglicher Begleiter. Danach arbeitet er in einer Kettenfabrik, wo „alle immer und überall getrunken haben. Auch der Chef selbst hatte immer eine Fahne.“ Als er mit Anfang 30 bei der Arbeit wieder stark betrunken ist, hat er beinahe einen schweren Arbeitsunfall. Die Firma entlässt ihn, auch zu seinem eigenen Schutz. Angestellt gearbeitet hat er seitdem nicht mehr, die Suchtkrankheit war einfach zu stark.
In diese Zeit fällt auch seine erste Entgiftung. „Insgesamt habe ich ungefähr 100 davon gemacht, das hat aber immer nur kurze Zeit funktioniert, wenn überhaupt“, sagt Oliver G.. Er macht die erste stationäre Therapie. „Als ich damit fertig war, dachte ich, dass ich geheilt wäre. Ich kam raus, habe mir direkt Schnaps gekauft und war sofort wieder drauf.“ So oder ähnlich verlaufen die folgenden Jahre. „Ich war immer weniger sozial angebunden, weil ich viel mehr als die anderen getrunken habe, hatte auch mal eine Freundin, die ebenfalls Alkoholikerin war. Trocken war ich damals nie.“
Die Wende
Die Wende in seinem Leben kommt erst, als er vom Blauen Kreuz betreut wird. Er zieht ins Falkenroth-Haus in Hagen, einer besonderen Wohnform der Eingliederungshilfe, die heute 31 Plätze im Wohnheimbereich und vier Plätze in zwei stationären Wohngruppen im Stadtgebiet hat.
„Die haben gemerkt, dass ich alleine nicht klarkam. Immer wenn ich in Therapie war, ging es gut – wenn ich wieder alleine war, brach alles zusammen.“
Oliver G. lebt zunächst im Wohnheim, dann in einer Außenwohnung. Weil er sich gut einbringt, wird er gefragt, ob er nicht in der Einrichtung arbeiten möchte. Gemeinsam mit den Handwerkern baut er das Haus um, als „Mädchen für alles“, wie er sagt. Nach elf Jahren wird er noch einmal rückfällig und muss zur Entgiftung.
„Ich habe mich dann wieder in Hagen beworben, ob ich zurückkommen kann.“
Die Einrichtung nimmt ihn wieder auf, seit 2012 ist Oliver G. trocken.
Die eigene Wohnung
„Ich hatte damals gedacht, dass ich für immer dort bleibe“, erzählt er nun heute. Aber sein Leben nimmt eine noch positivere Wendung. Mit seiner Lebensgefährtin zieht er im Jahr 2022 in die eigene Wohnung, mit viel Sorgen, die sich zum Glück nicht bestätigt haben. „Ich habe damals zu meiner Therapeutin gesagt, ob ich das wohl schaffen werde – aber dass ich es auch versuchen will, wenn ich nicht hier irgendwann einmal im Falkenroth-Haus sterben möchte.“
Gemeinsam haben die beiden ihre Wohnung eingerichtet, in der sie mit vier Wellensittichen leben. Regelmäßig kommt dort David Krüger vorbei, der Oliver G. und seine Lebensgefährtin für das Blaue Kreuz betreut. „Ich besuche Herr G. und seine Partnerin alle zwei Wochen“, sagt der studierte Sozialarbeiter, der seit drei Jahren bei der Einrichtung arbeitet und insgesamt für 15 Klientinnen und Klienten verantwortlich ist. ‚„,Besuchen‘ trifft es dabei sehr gut: Wir trinken gemeinsam Kaffee, tauschen uns über das Zeitgeschehen aus, sprechen auch mal über Behördengänge. Die Sucht steht dagegen überhaupt nicht mehr im Vordergrund.“ Dennoch ist der regelmäßige Kontakt enorm wichtig, sagt Krüger. „Wenn es einmal Probleme gibt, kann mich Herr G. direkt ansprechen, zum Beispiel bei Belastungssituationen oder wenn es in der Beziehung einmal nicht so gut laufen würde.“ Gleichzeitig sorgt David Krüger dafür, dass der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), der die Hilfen im Rahmen des Ambulant Betreuten Wohnens finanziert, immer über den aktuellen Stand Bescheid weiß. „Wir haben, weil es so gut läuft, die Hilfen gerade von drei auf eine Stunde pro Woche reduziert“, sagt Krüger. „Wenn es wieder mehr Bedarf gäbe, könnte das in Absprache mit dem LWL aber auch wieder angehoben werden.“
Das bestätigt auch Christina Hülsheger. Die LWL-Teilhabeplanerin, die für Oliver G. zuständig ist, trifft sich heute mit David Krüger, um über verschiedene Klienten zu sprechen. „Wenn sich Hilfebedarfe ändern, können wir schnell reagieren. In diesem Fall sehen wir aber, dass wir ein funktionierendes System haben.“ Nun gehe es darum, die Erfolge, die Oliver G. erreicht hat, zu stabilisieren. Dazu gehört die Abstinenz als Hauptziel, um so auch im Alltag gut leben zu können. Das Blaue Kreuz und der LWL begleiten Oliver G. dabei, auch mit entlastenden Gesprächen oder einer eventuellen Begleitung zu Ärzten oder Psychologen, wenn das einmal nötig wäre.
Der LWL finanzierte die Betreuung von Oliver G. im Falkenroth-Haus. „Der Weg vom Wohnheim über die Außenwohnung nun in die eigene Wohnung ist sehr gut für Herrn G., aber auch für das gesamte System“, sagt Christina Hülsheger. „Herr G. kann selbstbestimmt leben und eine ganz andere Teilhabe erfahren als zuvor - und die Kosten und der Personaleinsatz sinken enorm.“
Für ihn selbst hat das neue Leben nur Vorteile. „Ich habe überhaupt kein Bedürfnis danach, Alkohol zu trinken“, sagt Oliver G.. „Die Zeit hat viel geholfen, einen großen Anteil haben aber auch meine Lebensgefährtin und natürlich auch das Falkenroth-Haus und das Blaue Kreuz.“ Er überlegt kurz.
„Es ist nicht die heile Welt, aber ich gehe anders mit den Problemen um, die ich habe. Für mich geht es heute nicht mehr darum, nur durchzuhalten, sondern einfach zu leben.“