Große Einrichtungen werden regionaler
Geschichte der Komplexeinrichtungen in Westfalen-Lippe
Im Folgenden werden der Begriff „Komplexeinrichtung“ definiert, die Entwicklung dieser Einrichtungen nachgezeichnet, die heutigen fachlichen Leitlinien aufgezeigt und die Perspektive für Komplexeinrichtungen beschrieben.
Die Entwicklung von Komplexeinrichtungen in dem bestehenden Umfang und in den konkreten Ausformungen wird aus heutiger Sicht kritisch reflektiert. Seit vielen Jahren werden gegenläufige Planungen umgesetzt. Der LWL setzt seit mehr als 20 Jahren eine konsequente Strategie der Angebotsverlagerung in die Region und Reduzierung der Angebote auf den Kerngeländen um.
Was sind Komplexeinrichtungen?
Komplexeinrichtungen sind besondere Wohnformen mit integriertem Betreuungs-, Förder- und Pflegeangebot. In der Regel haben Komplexeinrichtungen ein überregionales, nicht standortbezogenes Einzugsgebiet. Komplexeinrichtungen verfügen über ein Kerngelände. Auf diesem Kerngelände befinden sich mehrere besondere Wohnformen. Zudem bietet das Kerngelände ein über das Wohnen für Menschen mit Behinderungen hinausgehendes Angebot wie Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM), umfassende Tagesstrukturangebote sowie diverse Freizeitangebote.
Nicht selten liegen die Komplexeinrichtungen fernab von städtischem Gebiet in ländlicher Umgebung und erschweren somit deutlich inklusive Entwicklungen. Das Gelände ist der Bevölkerung als besonderes Gelände („Anstalt“) seit Generationen bekannt. Nicht selten befinden sich auf dem Gelände auch spezialisierte medizinische Angebote wie Kliniken.
Um 1900
Viele der heutigen Komplexeinrichtungen wurden bereits um 1900 als Alternative zu Arbeits- und sogenannten Zucht- bzw. Tollhäusern gegründet.
1960 bis 1990
Erst in den 1970er Jahren entstanden vermehrt kleinere, regional orientierte Wohnangebote. Verschiedene Ereignisse unterstützten diese Entwicklung, z.B. die Verabschiedung des Bundessozialhilfegesetzes (1961), die Gründung der Bundesvereinigung Lebenshilfe (1958), die Gründung der Aktion psychisch Kranke e.V. und der Deutschen Gesellschaft für Sozialpsychiatrie (1970) sowie die Veröffentlichung der Psychiatrie-Enquete (1975).
1980/1981 löste der LWL die Bettensäle in den sogenannten Landeskrankenhäusern auf. Ein Teil der Langzeitpatienten konnte jedoch nicht in wohnortnahe, regionale Versorgungseinheiten entlassen werden, da diese häufig eng auf eine Werkstatttätigkeit ihrer Bewohner angewiesen waren. Während der Öffnungszeiten der WfbM (Werkstätten für behinderte Menschen) gab es keine Personalpräsenz in den Wohnangeboten, und zudem fehlte es oft an nächtlicher Betreuung. Menschen mit komplexeren Betreuungsanforderungen konnten dort daher nicht betreut werden, daher blieb die Nachfrage nach Plätzen in Komplexeinrichtungen hoch.
So entstanden noch in den 1960er Jahren neue Komplexeinrichtungen. Die regionalen Anbieter konnten der bestehenden Gesamtnachfrage an Plätzen auch quantitativ nicht ausreichend entgegenkommen. In manchen Regionen fehlten entsprechende Plätze gänzlich oder waren nur in sehr geringem Ausmaß vorhanden. Viele Menschen aus dem Ruhrgebiet mussten daher in die Standorte der Komplexeinrichtungen in Ostwestfalen, im Westmünsterland oder in der Hellwegregion ziehen. Westfälische Komplexeinrichtungen wurden aus der gesamten alten Bundesrepublik belegt.
Seit 1990
Erst in den 1990er Jahren mit Einführung des Landespflegegesetzes begann der LWL mit einer systematischen Bedarfsplanung über alle Wohnangebote in Westfalen-Lippe. Zuvor beschränkte sich die Bedarfsplanung auf die Wohnplätze für Beschäftigte der Werkstätten für behinderte Menschen.
Seit 2000
Mit dem Landesrahmenvertrag (2001) wurden individuelle Leistungsvereinbarungen abgeschlossen und damit die Plätze, Adressen, Zielgruppen und Einzugsbereiche festgeschrieben.
2002 wurde das Förderprogramm Umwandlung von Groß- und Komplexeinrichtungen (UGK) von der Aktion Mensch beschlossen. Leitanträge mit einer Laufzeit von bis zu zehn Jahren konnten bis zum 31. Dezember 2010 gestellt werden.
Durch folgende Maßnahmen konnte der LWL die Entwicklung der Komplexeinrichtungen deutlich beeinflussen:
- die Zuständigkeitsverlagerung für das ambulant betreute Wohnen (2003),
- mit den Rahmenzielvereinbarungen Wohnen I (2006), Wohnen II (2008), Wohnen III (Rahmenvereinbarung Zukunft der Eingliederungshilfe in NRW sichern 2011),
- mit den „Leitlinien zur Sozialplanung im Bereich Wohnen für behinderte Menschen“ (2008) und
- mit dem ausgesprochenen „Deckel“, der 2007 die Anzahl der Wohnangebote in besonderen Wohnformen auf den damaligen Wert in Höhe von 23.646 beschränkte.
Seit 2012: Bestand und Entwicklung
Seit 2012 erhebt der LWL regelmäßig die Situation der Kerngelände der Komplexangebote. Seitdem hat es eine deutliche Weiterentwicklung gegeben. Zwischen 2006 und heute haben sich die Kerngelände um 34% reduziert und die Angebote wurden entsprechend in die Region verlagert. Zeitgleich sind diese Komplexangebote inklusiver geworden. Die Leistungserbringer haben auf ihren Kerngeländen durch diverse Maßnahmen erreicht, dass diese auch von Menschen ohne Behinderungen genutzt werden, z.B. durch eine Wohnbebauung, durch die Ansiedelung von Praxen, Kitas oder Bildungseinrichtungen oder durch Inklusionsbetriebe wie Cafés.
Perspektive
Komplexeinrichtungen, die häufig eigene „Ortschaften“ bilden, entsprechen bei allen Inklusionsbemühungen in der Regel weiterhin nicht den heutigen fachlichen Prämissen und den Anforderungen an inklusive Sozialräume. Ihre Bewohnerinnen und Bewohner sind in der Bevölkerung der Standortregion selten präsent. Ein Verlassen der Kerngelände ist kaum erforderlich, da sich dort die für den Alltag notwendige Infrastruktur befindet. Alle notwendigen Hilfen werden in der Regel durch die Komplexeinrichtung erbracht.
Weiterhin gilt somit das Ziel des LWL, die Anzahl an Wohnangeboten auf Komplexgeländen zu verringern und die Gelände inklusionsfördernd, z.B. durch die Ansiedelung von Wohnbebauung, weiterzuentwickeln.
Konkret heißt dies, dass die Komplexeinrichtungen
- sich grundsätzlich deutlich regionalisieren und die Angebote auf andere Standorte verlagern,
- sich konsequent ambulantisieren,
- überregionale Aufnahmen vermeiden,
- ihr Kerngelände zu einem inklusiven Gemeinwesen entwickeln,
- auf dem Kerngelände spezialisierte Aufgaben wahrnehmen,
- Menschen aufnehmen, die sich bewusst für das „dörfliche“ Leben in einer Komplexeinrichtung entscheiden und nicht, weil in ihrer Heimatregion keine ausreichenden Plätze vorhanden sind,
- sich regional einbinden und Verantwortung für die Region übernehmen („Pflichtversorgung“).